Bill 2022

Ein Gespräch mit Bill Nickl, der seit 1991 im ZEGG lebt und hauptverantwortlich den Seminar - und Festivalbetrieb mit aufgebaut hat.

Wie würdest du die Entwicklung des ZEGG beschreiben?
Bill: Wenn ich die 32 Jahre des ZEGG betrachte, könnte ich sie ganz grob in drei Abschnitte unterteilen: Pionierzeit bis 1995, die Aufbauphase und die Zukunft, die neue Generation.

Was findest du zentral für diese Phasen und was ist dir für die Zukunft besonders wichtig?

1. Pionierzeit

Am Anfang war das ZEGG ein Folgeprojekt der Bauhüttenzeit, stark unter der „charismatischen Oberhoheit“, der klaren Leitung und Inspiration von Dieter Duhm, Sabine Lichtenfels und der ersten Gründergeneration. Nach der Sektenkampagne gegen das ZEGG zogen sie selbst nicht hier ein und gründeten 1995 Tamera. Dorthin wanderten in den Folgejahren auch viele Menschen aus dem ZEGG Richtung Portugal ab.

Pionierzeit ZEGG

Was passierte dann?

2. Aufbauphase

Damit begann die zweite Aufbauphase und wir stellten uns die Frage: Was soll das ZEGG selbst werden? Ohne die Inspiration von Dieter Duhm. Wir mussten selbst überlegen: Welche Inhalte sind wichtig, welche Strukturen? Wie ist unser Verhältnis zu Tamera? Wir haben ein eigenes Profil aufgebaut und uns hier in der Region engagiert, neue Menschen kamen dazu.

Das thematische Spektrum erweiterte sich: neue Inspirationen wie Tanz, gewaltfreie Kommunikation kamen dazu. Unser Profil diversifizierte sich, wir etablierten uns als Bildungszentrum. Und wir forschten viel an den Entscheidungsstrukturen, entwickelten uns vom täglichen Plenum hin zur Soziokratie. Was immer blieb: es gibt keinen Chef!

In der in den letzten 27 Jahren haben wir so sehr viel aufgebaut und das ZEGG hat seine heutige Form, Größe und Professionalität bekommen. Die Generation, die diesen zweiten Abschnitt mit begründet und stark geprägt hat, ist nun älter geworden, einige treten etwas kürzer und jetzt kommt eine neue Generation. Und es ist wieder offen, wohin sich das ZEGG entwickeln wird.

Jugend am Freuer

Was umfasst für dich dann die dritte Phase?

3. Zukunft und neue Generation

Wo geht es in Zukunft lang? Kommt noch mehr Professionalisierung und Bürokratisierung? Welche Menschen rücken dauerhaft nach und engagieren sich in den nächsten zehn Jahren? Welche Themen sind heute wichtig?

Zum Beispiel die Entscheidung, ob wir uns vor allem auf innere Themen konzentrieren oder ökologischen Fragen wie dem Klimawandel eine größere Bedeutung geben. Da gibt es schon eine Entwicklung mit der aktuellen Ökogruppe und der von ihr initiierten Mitmachregion. So eine professionell arbeitende Ökogruppe gab es noch nie und ich finde das sehr wichtig und beeindruckend.

Auch über die Themen zu Liebe und Sexualität, für die wir von Anbeginn stehen, sollte ein Resumée gezogen und hohe Ansprüche überprüft werden. Zum Beispiel das Ideal der freien Liebe ohne Eifersucht. Die Erfahrung hat gezeigt, dass auch wir das hier nur schwer verwirklichen.

Was ich kritisch finde: Wir haben immer mehr bürokratische Treffen und Verpflichtungen. Einerseits sind wir so professioneller geworden, anderseits verbringen wir viel Zeit damit . Unser Alltag als hier Lebende ist oft einer mit vielen Vollversammlungen, mit „Statusverfahren“ und „Koordinierungskreisen“.

Außerdem gibt es neue Herausforderungen für die Zukunft: Immer mehr Menschen in der Gemeinschaft werden älter und brauchen irgendwann Pflege. Da brauchen wir langfristige Konzepte und es gibt zum Glück Menschen aus der Gemeinschaft, die schon daran arbeiten.

Wir haben jetzt lange von dem gelebt, was wir in den Jahrzehnten vorher aufgebaut haben. Und es ist immer noch so, dass wir sehr gute Seminare und Festivals machen und einen Platz haben, an dem Menschen mit sich selbst und anderen in einen tieferen Kontakt kommen.

Ich finde das Leben hier immer noch sehr viel schöner und sinnvoller als wenn ich draußen in einer Zweizimmerwohnung leben würde. Ich arbeite und lebe hier sehr gerne, aber mein Bezug zur Gemeinschaft ist ein anderer geworden als früher, weniger nah. Vielleicht auch, weil ich viele Themen schon zu oft mit durchgemacht habe.

 

Was sind denn Themen, die immer wieder kommen?

Wie bildet sich Gemeinschaft?

Eine Frage, die schon 1992 kam: Sind wir überhaupt eine Gemeinschaft? Uns immer wieder zu hinterfragen und einen kritischen Blick auf uns selbst zu haben. Es gab schon immer unterschiedliche Bilder, wie sich Gemeinschaft bildet: darüber, dass wir hier zusammen arbeiten und gestalten? Oder entsteht Gemeinschaft nur, wenn wir uns explizit dafür zusammen setzen und Prozessarbeit machen?

Für mich ist Gemeinschaft nicht ein definierter Raum von Menschen, die sich möglichst oft treffen, sondern entsteht durch das, was wir hier gemeinsam tun. Auch durch das Arbeiten für den gemeinsamen Betrieb. Für andere ist es wichtig, dass man immer intensiv oder reflektierend zusammen ist.

Ich finde das auch keinen Rückschritt, wenn wir uns Richtung Ökodorf entwickeln und nicht immer der Karotte von mehr zwischenmenschlicher Intensität hinterherlaufen.

Wir müssen nicht immer Avantgarde sein. Aber wir sind gerade auch durch das, was wir tun und leben ein Modellprojekt und können andere Menschen ermutigen.

Was sind noch Themen, die immer wieder kamen?

Wie müssen Menschen sein, die in die Gemeinschaft einsteigen?

Darüber gibt es oft Diskussionen und jedes Jahr verbringen wir viele Nachmittage damit. Dabei finde ich die tatsächliche Mitgliedschaft gar nicht so wichtig, sie bedeutet nur, ob man mitstimmen kann, aber sagt wenig aus über das reale Sein und Engagement in der Gemeinschaft. Man kann Gemeinschaftsmitglied sein und völlig unverbunden hier leben und handeln. Oder man kann Einsteiger:in und hier sehr engagiert und mittendrin sein.

Und wenn man sehr lange hier ist, tritt natürlich auch eine Ermüdung ein und man will nicht mehr an allen Veranstaltungen teilnehmen. Auch, weil immer wieder Menschen gehen und neue kommen.

Wie ist das für dich persönlich, wenn Menschen gehen und kommen?

Fluktuation und zahlreiche Abschiede

Nach drei Jahrzehnten hier habe ich mich schon auf viele Menschen eingelassen und von so vielen verabschiedet. Ich hatte so viele Abschieds- und Trauerprozesse, die ich gar nicht mehr alle vollziehen konnte. Das ging schon 1995 mit der Auszugswelle nach Tamera los. Ich möchte das nicht mehr so an mich heranlassen, wenn jemand geht.

Und ich verlasse mich auch nicht mehr so darauf, dass der andere nächstes Jahr noch da ist. Diese Fragilität ist auch anstrengend. In der Gründerzeit hatten wir noch die Idee, dass wir für immer zusammen bleiben und waren sehr familiär miteinander. Und dann kamen viele Neue und kamen und gingen. 90% meiner Bezugspersonen sind heute nicht mehr hier.

Abschiede sind hier wirklich sehr zahlreich. Ist das auch eine Folge davon, dass das ZEGG eher ein Ausbildungsort als eine Siedlungsgemeinschaft ist?

Bill 1996

Bill Nickl 1996

Siedlungsplatz oder Avantgarde?

Ja, viele Menschen kommen nur für ihre Zeit und ihre Selbsterfahrung. Den Anspruch, Avantgarde zu sein und ein Projekt zu sein, was politisch etwas bewegt, den hatten wir immer. Aber je länger ich hier lebe, desto wichtiger ist für mich, wer bleibt und mit mir hier lebt. Das ist auch ein Grund, warum gemeinsame Ökonomie hier noch nicht funktioniert hat. Oder warum ein gemeinsames Altwerden schwer planbar ist. Das hat die Privatisierung von Beziehungen und Altersvorsorge auch im ZEGG gefördert. Das ist zum Beispiel in einer Gemeinschaft wie Füssen anders, die leben eher wie ein Stamm und bleiben von Jung bis Alt zusammen.

Es gibt ja auch im ZEGG jetzt Initiativen von neueren Gemeinschaftsmitliedern, mehr gemeinsame Modelle zu entwickeln: zum Beispiel um die neuen Genossenschaftsanteile gemeinsam und solidarisch aufzubringen. Um zusammen zu bauen. Oder die Pflege der Älteren gemeinsam zu planen.

Trotzdem braucht es einen Umgang mit den vielen Abschieden und ich frage mich: Ist das nicht auch eine menschliche Lernaufgabe und Reifung? Die Erfahrung, dass der andere oder die Beziehung nicht für immer bleibt, dass Menschen gehen oder sterben.

Ich merke nur, dass ich dadurch nicht mehr so gemeinschaftlich denke wie vorher, was Altersvorsorge oder Zusammenleben angeht, sondern eher privat. Früher gab es mehr Sehnsucht nach dauerhafter Freundschaft, dauerhafter Liebe und die Vorstellung, dass wir dies in Gemeinschaft erreichen können. Das hat sich für mich verändert. Ich glaube, dass wir deshalb auch einige unserer Ideale überprüfen müssen.

Privatisierung der Liebe und mehr Monogamie

In einer Gemeinschaft, die sich ständig verändert, sucht man in der Liebesbeziehung immer mehr einen sicheren Hafen. Denn wenn ich diese Beziehung öffne, gibt es auch mehr Unsicherheit. Ich glaube aber, dass Menschen auch Sicherheit brauchen, vor allem beim Älterwerden oder wenn man auch andere Sachen vorhat, zum Beispiel beruflich und für die Welt.

So gibt es mittlerweile mehr Rückzug ins Private und mehr Monogamie, auch im ZEGG. Das liegt auch daran, dass wenige von uns richtig gute Mehrfachbeziehungen hinbekommen haben. Wir haben vieles ausprobiert, aber es hat nicht alles funktioniert. Wahrscheinlich mehr als Draußen, aber unsere hohen Ideale eher nicht. Ich könnte sofort einen theoretischen Vortrag über Freie Liebe halten, aber im Alltag ist es viel schwerer, vor allem, wenn wir hier zusammen leben und uns immer vor Augen haben. Hohe Ideale schaffen auch immer Schuldgefühle und sollten deshalb überprüft werden.

Was ist dein Resumée?

Wir sollten ein bisschen realistischer werden, was unsere Ansprüche angeht und uns selbst mehr wertschätzen. Wir haben einen fantastischen Platz aufgebaut, ein tolles selbstverwaltetes ökologisches Projekt geschaffen und einen Ort, wo die Gäste und auch wir uns offener und ehrlich begegnen können.

Interview und Bearbeitung: Alicia Dieminger

 

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